Eine Bildbetrachtung zu Anthony Lowe 2008

Der Topos „Ich und die Stadt“ ist eines der Hauptthemen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in Deutschland und auch anderswo. Die Hauptstadt der Großstadtmalerei im 19. Jahrhundert war Paris, vor allem das Paris der Impressionisten. Die Großstadtmalerei des vorigen Jahrhunderts ist zu einem bedeutenden Teil in Berlin entstanden, insbesondere in den zehner und zwanziger Jahren, also in den Jahrzehnten des deutschen Expressionismus, als Berlin ein energetisches Zentrum der Künste gewesen ist. Doch in den Werken der deutschen Expressionisten war nicht die Stadtbildmalerei, nicht die städtische, erzählerische Vedute, nicht die Profilansicht der Stadtkrone, nicht die Skyline, auch nicht die Häuserkulisse der Gegenstand der Künstler. In der groß angelegten Ausstellung 1987 „Ich und die Stadt. Mensch und Großstadt in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin hießen die Unterthemen etwa: „Die Straße“, „Apokalypse“, „Café und Cabaret“, „Im Dickicht der Städte“, „Die Dichter“ oder „Blinde Macht“. Der Obertitel der Exposition damals war dem gleichnamigen Gemälde „Ich und die Stadt“ von Ludwig Meidner aus dem Jahre 1913 entliehen, das den Kopf des Künstlers in unmittelbarer Nahsicht riesengroß vorn am Bildrand vor einer aus den Fugen geratenen städtischen Ansicht zeigt. Diese Konfrontation von Selbstporträt und Stadtansicht ist ungewöhnlich und unüblich – und damit komme ich zu den Städtebildern von Anthony Lowe.

Das Ich des Malers Anthony Lowe ist in seinen Gemälden – Sie werden es erkannt haben – nur indirekt zu entdecken, nämlich in seiner Handschrift, seinen ausgefeilten narrativen Kompositionen. Der Künstler selbst wie überhaupt der Mensch als Schaffender, als Handelnder und Bewohner dieser städtischen Ansichten tritt nicht oder nur äußerst selten auf. Es ist auch nicht etwa der Unterschied solcher Metropolen wie London und der Kreisstadt Altenburg, in deren Nähe der Künstler lebt. Es ist die Atmosphäre dieser Städtebilder voller erzählerischer Details, der der Betrachter ausgesetzt ist, und die in ihm Ahnungen darüber aufkommen lassen, was den nicht sichtbaren und doch indirekt anwesenden Bewohnern dieser Orte in diesem geordneten Gewirr tagtäglich zugemutet wird.

Denn es handelt sich nicht um reale Städteporträts, so genau Anthony Lowe die jeweiligen Städte und Örtlichkeiten vorher mit dem Skizzenbuch oder neuerdings mit der Kamera nach dem Charakteristischen, dem Unverwechselbaren – will sagen: dem Erkennbaren, dem Identifizierbaren erforscht hat, vielmehr sind die Ansichten von London, München, New York, Dresden, Gera oder Altenburg durch die verzerrte Perspektivkomposition und die Farbgebung ins Irreale gehoben.
Das Auge des Betrachters wird durch eine Vielzahl von miteinander kombinierten Perspektivansichten – Aufsicht, Frontalansicht, Draufsicht, Untersicht in Verbindung mit gegenläufigen Diagonalen, die für eine im Wortsinn unheimliche Dynamik sorgen – durch die Städte geleitet. Bisweilen derart irritierend, daß der betrachtende Flaneur durch diese Städte die Orientierung zu verlieren droht. Die Häuser im Hintergrund erscheinen größer als die im Vordergrund, die einzelnen Motive verlieren mit der Entfernung nichts von ihrer exakten Deutlichkeit. Sie sind vorn am Bildrand ebenso scharf wiedergegeben wie in der Tiefe des Raumes oder weit hinten am Horizont. In diese taumelnde Bildanordnung sind die Häuser, Brücken, Kirchen, Gärten eingebunden, die realistisch betrachtet so gar nicht Bestand halten könnten, sie würden sämtlich in sich zusammenstürzen.

Halt gibt ihnen einzig die Komposition; der Künstler setzt mit diesen verschachtelt in Szene gesetzten Artefakten und Architekturen Akzente innerhalb der bildlichen Ordnung, die neben dem Wiedererkennungswert – etwa in der Londoner Silhouette der Trafalgar Square oder die „Roten Spitzen“, das Wahrzeichen von Altenburg – bildkonstitutiv als FORM, als FARBE – als ORNAMENT oder als emotionaler FARBTON erscheinen.
Das Moment der Verstörung – der Künstler selbst spricht von einem „märchenhaften Grundton“ seiner Gemälde, in denen die kausalen oder logischen Gesetzmäßigkeiten aufgehoben sind – wird künstlerisch-handwerklich auch dadurch noch verstärkt, indem Anthony Lowe nach der Unterzeichnung mit der Holzkohle auf der Leinwand die einzelnen Motive in einer Mischung aus Lasurmalerei (durchscheinend) und opakem (also deckendem) Farbauftrag in vielen Schichten ausführt. Angewendete Technik, Motiv und Bildvorstellung stehen in einem engen, sich gegenseitig ergänzenden und bedingenden Verhältnis. Häufig trägt ein Grundton, trotz aller oberflächlich zunächst erscheinenden Vielfarbigkeit – eine warme oder kalte, eine Primär- oder Mischfarbe – den Gehalt, die Stimmung eines Gemäldes.
Und dann schwebt ein reich verzierter Heißluftballon aus fernen Zeiten, der an die Brüder Montgolfier denken läßt, wie schwerelos und traumverloren über – nein: durch die Altenburger Szenerie.

Vergangenes und Gegenwärtiges sind wie selbstverständlich vereint, zusammengeführt – der Betrachter muß dieses Unvereinbare zusammendenken und seinen Ort, seinen Halt in diesen alles andere als idyllischen Städtebildern finden. Die Attitüde von großer scheinbarer Natürlichkeit – von Realistik ist daher nicht zu sprechen – ist das zusammengesetzte Ergebnis von konsequenter Kunstfertigkeit. Anthony Lowe’s Gemälde sind lauter zusammenge-führte inszenierte Schnappschüsse, basierend auf vielen Einzelbeobachtungen, doch die Ästhetik der Momentaufnahme ist eingebunden in eine Atmosphäre des Vibrato; ein labiles Zittern ist den Dingen, der Architektur, der als Eigenmacht der Struktur erlebten Stadt wie auch der Natur eingeschrieben.

Das Empfinden auf unserer Seite, auf der des Betrachters, ist widersprüchlich: Faszination und Angst, eine Mischung aus Begeisterung und Abwehr nimmt von uns Besitz. Die Eigenmacht der Gemälde mit ihren dicht verwobenen Texturen, die auch das Ornament mit- einbeziehen, läßt uns als Irritierte zurück: Die Hasen mit den großen Lauschern hören alles – aber was haben sie von den Helikoptern zu erwarten, die über ihnen kreisen? Wo ist der Ort, wo es sich sicher leben läßt? In der Stadt? Inder Natur? Im eigenen Garten? In der eigenen Bildvorstellung? Aber was ist, wenn das Bewußtsein grundsätzlich vom Zusammenstoß des Ich mit der Welt geprägt ist? Fragen, die diese Gemälde stellen, auf die jeder seine eigene Antwort finden muß. In jedem Fall: „Was bleibt von der Kunst“, fragte der Schriftsteller Robert Musil und gab sogleich selbst die Antwort: „Wir als Veränderte bleiben.“

Dr. Thomas Matuszak – Leiter der Graphische Sammlungen des Lindenau Museums Altenburg | Altenburg, 31. August 2008

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